Vorschaubild für Blogeintrag "Das war der Moment,... der „Claudia, hör auf damit, sieht scheisse aus“ “-Moment."

Das war der Moment,... der „Claudia, hör auf damit, sieht scheisse aus“ “-Moment.

Die meisten Leute haben auch nur halb so viel Eier in der Hose, wie mein Lieblingsdoc

  • Sport ist immer die Antwort

Bis ich 18 war, hab ich exzessiv an den Nägeln gekaut. Aber nicht nur n bisschen, ich hab sie blutig gefressen.

Ursache dafür können Stress, Anspannung oder einfach Langeweile sein. Vielleicht ist es auch einfach eine völlig dämliche Angewohnheit gewesen. Ich war in der Ausbildung zur Rettungsassistentin, neben mir sitzt ein junger Mann, Frank. Frank sagt irgendwann nach drei Monaten mal ganz beiläufig zu mir:
„Claudia, hör auf damit, sieht scheisse aus.“
Ich hab nie wieder geknabbert. Jahrelang hat meine Mutter mir Handschuhe beim Fernsehen angezogen, mir so eklig, bitteres Zeug auf die Flossen geschmiert. Nix hat geholfen, ich hab gefressen, und gefressen. Und dann sagt Frank, ein völlig unbedeutender Mann in meinem Leben diesen Satz.. … und ich höre einfach auf.

Ähnliche Geschichte ist meinem Lieblingsdoc passiert. Aber vorweg kurze Erklärung, warum er mein Lieblingsdoc ist:
2016 hatte ich diesen schweren Unfall (scroll mal bei den Beiträgen runter und zieh dir den Blog rein, wenn du noch Zeit hast). Unter anderem hab ich mir ja dabei meinen Unterarmknochen durch meinen Ellenbogen geschossen.
Für die medizinische Versorgung nach diesem Ereignis (die Wirbelsäule war auch 2 mal gebrochen) kam nur die Schulthess Klinik in Zürich für mich in Frage.

Und so lernte ich Fabrizio kennen. Er hat meinen Ellenbogen wieder zusammengeflickt.. Mit Schrauben, Platten, Drähten, weiss der Kuckkuck was, aber das Ding funktioniert wieder einwandfrei, als wäre nie was gewesen, wofür ich natürlich unendlich dankbar bin.

Während der Nachbehandlung erzählte mir der Doc irgendwann, er müsse ja eigentlich auch abnehmen. Und einen Halbmarathon rennen, er habe da so eine Wette am Laufen. Ich bot ihm an, ihn dabei zu unterstützen und ihn zu trainieren. Müdes Lächeln, Kopfschütteln.
Immer wieder begegneten wir uns in der Schulthess Klinik. Immer wieder bereitete ihm meine blosse Anwesenheit ein schlechtes Gewissen. Er müsste ja ... er sollte ja ... und das Übergewicht ... und die Wette ....
Vier (!!!) Jahre später war der Moment gekommen. Ob denn mein Angebot noch stehen würde, er müsse dann jetzt wirklich mal was tun. Holla, die Waldfee. Na klar steht mein Angebot noch!

So verabredeten wir uns zu einem gemeinsamen Run nach Feierabend. Ich holte ihn aus der Sprechstunde ab und wir liefen los. Selbstverständlich erwartete ich jetzt keine 4:30er Pace, aber verdammt ... Der Mann war wirklich nicht fit. Hat gekeucht wie n Walross und gekämpft.
Wir liefen eine kleine Runde, so vier Kilometer. Dann war er fix und fertig.

Aber genau dieser Lauf, dieser eine Lauf, hat für Fabrizio einiges geändert.

Denn durch diesen Run ist ihm richtig bewusst geworden, wie unfit er eigentlich ist. Natürlich wusste er, dass er Übergewicht hatte und das er die 20 auch schon vor locker 30 Jahren passiert hatte, aber er war erschrocken über sich selbst. Ich fragte ihn natürlich, was denn passiert sei, dass er nun nach vier Jahren doch noch auf mich zugekommen sei. Er habe einen alten Kollegen wieder getroffen und der sagte quasi zur Begrüssung schon „Gott Fabrizio, bist du fett geworden“.

Das war der Moment,... der „Claudia, hör auf damit, sieht scheisse aus“ “-Moment.

Es kommt eine Person und an dem Tag bist du einfach empfänglich für diese Botschaft, die du schon hundert Mal vorher gehört hast und dir wird klar, du musst was ändern.

Der Beweggrund für Fabrizio war nie, einen Halbmarathon in 1:30 h zu finishen. Sondern etwas für seine Gesundheit zu tun, seiner Familie zur Liebe, seinem eigenen Körper zur Liebe. Natürlich auch, seine Wettschulden einzulösen.

So dann. Wir gingen von nun an Rennen, 1-2 mal die Woche holte ich ihn ab. Im Dunkeln, im Regen, im Schnee, bei Gewitter, bei Hitze. Wir liefen. Er wusste, die (wie er mich liebevoll nannte) „little Rat“ kommt. Die hat keine Ausrede und die steht immer pünktlich auf der Matte. Und sein guter Anstand hätte es ihm verboten, mich zu versetzen, oder mir abzusagen.
Man bedenke, der Mann steht morgens vor fünf Uhr auf, operiert zum Teil den ganzen Tag und kriegt dann trotzdem noch den Hintern hoch, um mit mir um 19 Uhr rennen zu gehen. Einfach, weil ich da stehe. Immer wieder hat er betont, würde ich nicht kommen, er würde ganz genüsslich auf seine Couch fahren und dort den Abend verbringen.

Aber es dauerte nicht lange und er rannte auch am Wochenende. Ohne mich. Samstags und sonntags.
Und es dauerte auch nicht lange und wir rannten die ersten zwölf Kilometer. Unsere „kleine Standardrunde“ waren dann die acht Kilometer, mit 200 Höhenmetern, die er nach wenigen Monaten locker wegsteckte.
Anfangs war es natürlich ein Monolog meinerseits:

Verdammt, der Mann kennt mein halbes Leben und er hatte ja nicht die Puste, um zu sagen, ich solle einfach mal die Fresse halten.

Aber schon nach drei Monaten hatte er genug Puste bei unseren Läufen, und wir konnten in den Dialog übergehen.
Wir könnten nicht unterschiedlicher sein. Aber das ist eben das Grossartige am Sport. Er verbindet Menschen. Menschen, deren Beziehung nie über ein Arzt-/ Patientenverhältnis hinaus gegangen wäre, wäre da nicht der Sport.

Wir kommen aus zwei völlig unterschiedlichen Welten, haben zum Teil völlig unterschiedliche Ansichten über Dinge. Kein Wunder, wir sind auch eine ganz andere Generation. Fabrizio könnte mein Vater sein.

Ich habe nie einen Menschen kennengelernt, der seine Familie so abgöttisch liebt.

Einen Menschen, der anfängt zu laufen, weil er möglichst ewig gesund bleiben will. Nicht für sich, sondern um die Zeit mit seiner wundervollen Frau und seinen Söhnen auch im Alter noch geniessen zu können. Was für eine schöne Einstellung ist das bitte?
Während er sich den Berg hochkämpft (und er ist NIE, NIE auch nur einen Schritt gegangen, er läuft, egal wie steil, Fabrizio läuft, er hat seinen Stolz und er gibt nicht auf!) erzählt er mir, sein Arzt habe zu ihm gesagt, er sei adipös. Pah ... adipös ... dem wird er es zeigen.

Fertig adipös.

Als Italiener liebt Fabrizio das gute Essen und den guten Wein. Aber auch dort war er konsequent. Der Mann hat studiert, der ist nicht blöd, der weiss schon, dass 4 mal die Woche rennen gehen ihn nicht zum Adonis macht, sondern das auch an anderen Stellschrauben gedreht werden muss. Also tat er auch das.
Es gab sogar eine Woche, in der ist Fabrizio insgesamt mehr als ich gerannt. Das war ihm natürlich ein inneres Blumenpflücken, könnt ihr euch vorstellen-;)

Neun Monate nach unserem ersten gemeinsamen Training rannte Fabrizio mit mir seinen ersten Halbmarathon!!!

Gefinisht. Ohne zu mucken. Wie immer. Der Elefant und die Gazelle (so nannte er uns immer) sind zusammen gelaufen und haben das Schätzchen nach Hause gebracht (sind in Aarau am Fluss entlang gerannt – kein offizielles Laufevent, sondern nur wir).

Ich weiss nicht, wer schlussendlich stolzer war, er oder ich. Im Vorfeld hatte ich ihm eine Medaille gravieren lassen und beide haben wir gestrahlt, als ich sie ihm überreichen konnte.

Die Leute haben mit dem Kopf geschüttelt, als sie gehört haben, dass er mit mir trainiert. Die Leute haben auch mit dem Kopf geschüttelt, als sie gehört haben, dass er einen Halbmarathon rennen will. Die Leute haben auch nur halb so viel Eier in der Hose, wie Fabrizo. Dieser Mann hat seinen Stolz, er hatte ein Ziel, er hat dafür gearbeitet, er hat gekämpft und er hat durchgezogen und abgeliefert. Immer! Aufgeben war nie eine Option.

Rennt ihr mal 21 km mit Anfang Fünfzig.

Was will ich mit dem Blog sagen?
Du kannst, wenn du willst. Jeder kann! Der Beweggrund muss nur der Richtige sein, dann ziehst du etwas auch durch. Und wenn du etwas nur machst, weil es jemand von dir erwartet, oder um es irgendwem zu beweisen, dann wird dat eh nix. Du musst es wollen! Und wenn du es nicht willst, ja Mann ... dann mach doch einfach was anderes!

Lieber Fabrizio,
Ich danke dir, dass ich dich auf diesem Weg begleiten durfte. Danke für dein Vertrauen und die vielen stundenlangen schönen Gespräche, auch wenn sie anfangs recht einseitig waren (aber ich verzeih dir, hattest einfach keine Puste, damals-;) ).
Du bist wahrlich ein Ehrenmann und der grösste Gentleman, den ich je kennenlernen durfte (du setzt mich nicht einfach am Bahnhof ab, du bringst mich eben zum Gleis und wartest, bis ich sicher im Zug sitze).

Die Schulthess Klinik kann wahrhaftig stolz sein. Nicht nur so einen fantastischen Operateur zu haben, sondern auch so einen unglaublich warmherzigen Menschen.

Jeder, der sich mal den Flügel bricht, den werde ich zu dir schicken, verlass dich drauf :-)