Mir scheint die Sonne so aus dem Arsch, kein Wunder sind die Polkappen am schmelzen
4512h- 6 Monate Vanlife
- IronVan
Ich hab ne alte Karre gekauft, weil ich nicht wusste, ob mir das Leben in eine Van gefallen wird, oder ob ich nach zwei Wochen heulend wieder in Zürich sitze und meinen Lifestyle zurück will.
Es war der Start in ein völlig neues Leben.
Ich war nie arbeitslos, ich bin immer rackern gegangen. Viele Jahre hatte ich zwei Jobs. Seit vielen Jahren trainiere ich zusätzlich.
Ich hatte immer einen Wecker, der mich am Morgen aus dem Bett geholt hat. Für eine Trainingseinheit vor der Arbeit gerne auch mal schon um vier Uhr in der Nacht.
Ich hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlt, den sicheren Hafen zu verlassen. Wie es sein wird, keine Verpflichtungen mehr zu haben. Wie ist es, sich nur noch um seinen eigenen Arsch kümmern zu müssen? Über nichts und niemanden mehr die Verantwortung zu haben, was auf Arbeit ja den großen Teil meiner Aufgabe ausgemacht hat.
Kann ich mich daran gewöhnen, jeden Morgen an einem anderen Ort aufzuwachen? Werde ich Angst haben, ausgeraubt zu werden und dadurch nachts wach liegen? Werde ich meinen Luxus vermissen? Meine heiße Dusche, meinen Benz, mein Bett, meine Waschmaschine?
Werde ich mich einsam fühlen? Weil ich meine wenigen Freunde, die ich habe, nur noch am Telefon höre und sie mich nicht mehr in den Arm nehmen können, wenn ich es brauche?
Und wie sind die anderen Länder? Wie sind die Menschen, die Kulturen, wie leben die alle so? Krieg ich meinen ganzen Ökopussykram zu kaufen? Wie ist es wohl, wenn einfach immer die Sonne scheint?
Und die aller, aller wichtigste Frage- stimmt es, was alle sagen, dass Reisen dich verändert? Dich zu einem neuen Menschen macht und den Horizont erweitert?
Ja, es stimmt. Absolut.
Selbst, wenn uns morgen die Karre um die Ohren fliegen würde und wir zurück müssten…Es war jetzt schon eine so unglaublich großartige Zeit. Ich habe so viel gelernt. Und ich habe so viel mehr zu mir selbst gefunden. Ich bin so entschleunigt, das kann man gar nicht in Worte fassen.
Das ich mal so n gelassener Typ werde, das glaubt mir keine Sau. Aber das kostbarste Gut im Leben ist eben Zeit. Und die haben wir. Und eben keinen Druck. Wenn wir im Stau stehen, können wir schmunzeln, denn es spielt absolut keine Rolle, ob wir in zehn Minuten ankommen, oder in einer Stunde. Denn wo wollen wir denn eigentlich ankommen? Es gibt kein Ziel. Und keinen Termindruck. Also spielt es auch keine Rolle.
Immer habe ich alles organisiert, strukturiert und durchgeplant. Aber das Leben fühlt sich so viel besser an, wenn man keinen Plan haben muss. Weil es keine Erwartungen gibt. Niemand erwartet von mir irgendeine Leistung an einem Tag, und das Wichtigste, ich selbst habe gelernt, keine Erwartungen an mich und einen Tag zu stellen.
Machen, worauf man Lust hat. Das klingt immer so geil und verdammte Axt, das ist es auch.
Einfach ne Stunde am Morgen dasitzen, Kaffee trinken und aufs Meer schauen. Wann nimmt man sich denn im Alltag die Zeit, für sowas?
Dieses Freiheitsgefühl…man kann es schlecht beschreiben.
Dieses zwanglose Lotterleben ist einfach unglaublich.
Ich bin so viel reicher als mit der dicken Karre und der grossen Hütte. Denn ich bin innerlich reich geworden. In solch kurzer Zeit.
Ich habe gelernt, den Moment zu genießen, und zwar in vollen Zügen. Denn diese Zeit gibt mir keiner mehr zurück. Ich werde nie wieder so jung und so unbeschwert sein, wie jetzt.
Ich werde nie wieder so wenig Probleme haben, wie aktuell (und auch nie wieder so wenig Rechnungen zu zahlen 😊).
Ich werde Kleinigkeiten wahrscheinlich nie wieder so zu schätzen wissen, wie jetzt im Vanlife. Eine heiße Dusche ist wie Weihnachten. Wasser allgemein ist so ein kostbares Gut geworden.
Gerade auf dem Klo sitzen zu können ist keine Selbstverständlichkeit (je nachdem, wie eben der Stellplatz ist, an dem wir aktuell stehen).
Mit Wellenrauschen einzuschlafen und so gut wie jeden Tag eine Schönwettergarantie zu haben ist auch jetzt nach 188 Tagen noch nicht „normal“ für mich geworden. Dafür sind eben frisch rasierte Pommesbeinchen ein Grund zum Feiern.
Endlich nehme ich mir die Zeit, fotografieren zu lernen. Das ist der einzige Grund, mir jetzt n Wecker zu stellen…weil ich den Sonnenaufgang festhalten will.
Ich habe gelernt viel, viel positiver auf Menschen zuzugehen, weil wir „Camper“ irgendwie ja alle n Rad abhaben und uns auch deswegen meist schnell gut verstehen. Und dann redet keiner über die Arbeit. Niemand. Das ist ja sonst bei den meisten Leuten das einzige, wovon sie erzählen können…weil sie auch nichts anderes erleben.
Das Hamsterrad, in dem wir alle sein müssen/mussten. Arbeiten, einkaufen, putzen, Freunde und Familie pflegen- im System funktionieren.
Es war eine sehr gute Entscheidung, da jetzt auszubrechen. Ich weiß nicht, wie lange wir dieses Leben noch führen können und auch nicht, wie lange wir es wollen. Aktuell kann ich mir nicht vorstellen, wieder einen ganz normalen Alltag zu haben (auch wenn mein Alltag in der Schweiz weiß Gott kein schlechter war).
Aber ich denke, es ist so, wie mit der Entscheidung das Vanlife zu starten, oder mit der Entscheidung ein Kind in die Welt zu setzen, einen Strassenhund zu adoptieren, oder zu heiraten. Du fühlst einfach, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass du bereit dafür bist.
Vielleicht wache ich eines Morgens auf und sage, ich hab die Schnauze voll davon, auf zwei Platten zu kochen und Salz in den Haaren zu haben.
Möchte lieber wieder auf der Rolle vorm TV trainieren. Möchte lieber wieder in der Badewanne liegen, anstatt Strandsand in der Kimme zu haben.
Aber aktuell lebe ich. Und zwar ein Leben, von dem ich lange geträumt habe.
Nie zuvor habe ich so unendliche Dankbarkeit gespürt, denn es ist mir durchaus bewusst, wie privilegiert ich bin, mir diesen Lifestyle erlauben zu können.
Es gibt doch diesen kitschigen Spruch: „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum.“
Ich habe mir viele materielle Träume in meinem Leben erfüllt. Sie alle haben mich glücklich gemacht, für den Moment. Aber Freudentränen habe ich in den letzten sechs Monaten definitiv öfter verdrückt, als in den 33 Jahren davor.
Natürlich hat auch das Leben in einem Van Schattenseiten. Dinge, die nerven, über die ich mich minim aufregen kann, die mir auf den Sack gehen.
Aber darüber dann im nächsten Blog mehr.
Jetzt wollte ich euch eigentlich nur sagen, es geht mir richtig, richtig gut und mir scheint die Sonne aus dem Arsch, dass es kein Wunder ist, dass die Polkappen nur so dahinschmelzen.
Take home message:
Warte nicht auf den perfekten Zeitpunkt, dir deine Träume zu erfüllen, denn der kommt nie. Wenn du ein Kind willst, ja dann lass dir JETZT den Braten in die Röhre schieben. Wenn du heiraten willst, dann schmeiss dich vor dem Alten auf die Knie und frag ihn. Wenn du reisen willst, mach n Tutti Account, verkauf deinen Ramsch, den genug Idioten haben wollen und zottel los. Wenn du dich selbstständig machen willst, geh endlich zu deinem Arschloch von Chef, sag ihm, was dir jeden Tag 100 mal durch den Kopf schiesst, knall ihm die Kündigung vorn Latz und geh erhobenem Hauptes aus seinem geschmacklos eingerichteten Büro.