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Ich wollte nie Ärsche wischen...

Wenn du die Wahl hättest, würdest du den gleichen Job wieder machen?

  • Geschichten aus dem Leben

Ich bin mit Medizin groß geworden. Meine Mutter war Inhaberin eines ambulanten Pflegedienstes und ist gelernte Krankenschwester. Alle Fragen zum menschlichen Körper konnte sie mir also stets beantworten. Und ich hatte viele Fragen. Es hat mich einfach interessiert, was in mir passiert. Mehr als Algebra oder Informatik.

Auf dem Gymi habe ich mich für die Fremdsprache Latein entschieden, denn das würde mir im medizinischen Bereich am meisten nützen- sehr schlaue Entscheidung, wie sich in den kommenden Jahren rausstellte.

Aber ich wollte nicht in die Pflege. Ich wollte nicht Ärsche wischen, ich wollte Action.

Also machte ich eine Ausbildung zur Rettungsassistentin. Und um das hier ein für alle Mal klarzustellen. Rettass ist höhergestellt als Sanitäter. Der Sani ist der Assistent des Rettungsassistenten und der Rettass ist der Assistent des Notarztes.
Nur weil in der Bevölkerung immer so gern gesagt wird „Die Helden, die Sanis sind da“. Die Ausbildung zum Rettungssanitäter dauert ganze drei Monate. Ich will den Job absolut nicht abwerten, aber eben meinen eigenen aufwerten 😉.
Ich habe diesen Beruf geliebt. Und ich liebe ihn auch jetzt noch. Und ich vermisse ihn. Es fährt kein Rettungswagen mit Martinshorn an mir vorbei, ohne dass ich sage „Sie spielen mein Lied“.

Es war eine absolut geile Zeit. Damals, als ich noch jung war (wie geil alt man sich mit dieser Redewendung gleich selbst macht) und in diesem Beruf gearbeitet habe, da gab es kaum Weiber im Rettungsdienst. Kategorie Schnittenschlitten (zwei Frauen als Besatzung) entstand erst viel später. Es war eine Männerdomäne, gerade deswegen habe ich es so gemocht. Es gab zwar keine Umkleiden für mich und auch keine Klos, aber Probleme wurden einfacher geklärt als mit den Zicken des weiblichen Geschlechts.
Sicherlich habe ich einige nicht ganz so schöne Dinge gesehen. Sicherlich habe ich auch diverse erfolglose Reanimationen auf meinem Konto. Menschen, die ich nicht mehr retten konnte. Kinder, für die wir zu spät kamen. Das alles zu verarbeiten, funktioniert mit den Jungs im Rettungsdienst aber einwandfrei. Du hast keine Bindung zu dem Patienten. Du kommst hin und dein Schema X startet. Regel Nummer eins: Völlig sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit.- okay, Rettungsdienst Humor, findest du jetzt vielleicht unangebracht. Sorry, not sorry.
Das Ziel ist, den Patienten lebend und nach bestem Wissen und Gewissen versorgt ins nächste Krankenhaus zu bringen. Da bleibt keine Zeit unterwegs Brüderschaft zu trinken, da heißt es Ballett jetzt, Horn an und Hackengas. Und wenn unterwegs reanimiert, intubiert, entbunden oder reponiert wird, umso besser.

Aber auch damals hat der Zahn der Zeit schon an mir genagt...

...und nach den ersten Jahren voller Blaulichtfahrten, gezogenen Dauerkathetern, Epistaxis, Apoplex, Hüftlux, Motorrad-/Skiunfällen und Polytraumata musste ich mir eingestehen, den Scheiss kann ich unmöglich bis zur Rente machen.
Es sind einfach immer die "3Gs". Ganz dick, ganz oben, ganz hinten. Das Geschleppe ist sicherlich machbar und die Hilfsmittel, die uns zur Verfügung standen, auch erste Sahne, aber schwere Menschen bleiben schwere Menschen und die muss man halt bei 80% der Verdachtsdiagnosen einfach mal schleppen. Und sie wohnen nie, ich wiederhole NIE im Erdgeschoss. Dazu kommt der Defibrillator, der Sauerstoff, der 35kg Rucksack, die Absaugpumpe und wenn du Pech hast, noch die Schaufeltrage und der Betäubungsmittel Koffer.
Schweren Herzens musste eine Alternative her. Früher oder später. Den Ausbilderschein hatte ich zwar mittlerweile auch in der Tasche, aber reich werden tut man auch nicht, wenn man Kindergärtnern und Fahrschülern verklickert, wie die stabile Seitenlange funktioniert und warum es von elementarer Bedeutung ist, den verdammten Motorradhelm abzunehmen nach nem Unfall (auch hier nochmal, weil ich es nicht oft genug sagen kann: Du wirst ihm den Hals nicht brechen, wenn dann, war er schon im Arsch, aber du kannst zugucken, wie er erstickt, wenn du ihm das Teil nicht möglichst zügig und trotzdem sanft von der Rübe reißt).

Mit 40, so war mein heimlich gestecktes Ziel, wolle ich am Schreibtisch sitzen.

Karriere machen. Außerdem keimte damals schon der Wunsch in mir auf, Deutschland zu verlassen. Raus aus dem Land, in dem ich mich einfach nicht richtig wohl fühlte. Der deutsche Rettungsassistent ist im Ausland nix wert, die deutsche Krankenschwester allerdings nimmt man so ziemlich weltweit mit Kusshand.
Also nochmal Schulbank drücken. Nochmal n Hungerlohn verdienen, während der damalige Ehemann sich durch den Sorgerechtsstreit und die Privatinsolvenz kämpft. Perfektes Timing. Nebenbei weiterhin am Wochenende Rettung gefahren, nicht wegen der Kohle, sondern aus purer Leidenschaft.
Nun wurde ich also Gesundheits- und Krankenpflegerin. Ich muss zugeben, das Wissen, was ich dort aufsaugen konnte in den Jahren der Ausbildung ist Gold wert. Ich kann es nicht oft genug sagen, der menschliche Körper ist ein Meisterwerk. Und wie es so ist, wenn einen was wirklich interessiert, dann lernt man quasi auch von ganz allein. Ich habe also den jahrgangsbesten Abschluss hingelegt (interessiert später keine Sau mehr, deswegen schreib ich es hier, jetzt lest ihr es wenigstens, wenn es sonst schon Keiner wissen will) und überaus erfolgreich auf der chirurgischen Intensivstation abgeschlossen.
Jetzt bloß weg hier aus Thüringen, ich habe es einfach nie lange an einem Ort ausgehalten- und auch nie lange mit demselben Mann. Scheidung eingereicht und zurück nach Berlin.

Die Krankenpflege ist ein wunderschöner Job. Menschen wirklich zu pflegen ist etwas unglaublich Tolles. Für meinen Kopf, das muss ich zugeben, hat mir der Beruf wesentlich mehr zugesetzt als die Rettung. Ich bin eben doch nicht so n eiskaltes Arschloch. Ich habe die Geschichten und das Leid der Patienten sehr oft mit nach Hause genommen, konnte nicht abschalten. Man baut eine Bindung zu den Menschen auf, wenn man sie jeden Tag pflegt, das ist was anderes als 35 Minuten im RTW.
Trotzdem habe ich es sehr gerne und mit (nicht erschrecken, ich besitze so was wirklich) viel Herz gemacht.

Und genau dieses Herz hat mir dann auch das Genick gebrochen.

16 Patienten im Frühdienst. Kein Schüler, kein Praktikant, keine Hilfe, Niemanden, der die Essenbestellung aufnimmt, das Essen verteilt, die Nachttische mal abwischt oder mal auf die Klingel geht.
Da bist einfach nur du, für diese ganzen Menschen. Visite, Mobilisation, Körperpflege, Papierkram. Offenes Ohr? Zeit für ein Gespräch? Zeit das Laken zu wechseln, weil ne kleine Bremsspur drauf ist- Fehlanzeige.
Kollege krank? Ja blöd, dann halt heute 32. Ach, leck mich doch. Überstunden daily Business. Du bleibst länger, weil du dem Opi doch noch versprochen hast, ihn nachher zum Klo zu bringen.
Einspringen an freien Tagen, ja klar, du tust es für die Kollegen.
Das alles habe ich eine gewisse Zeit mitgemacht. Irgendwann saß ich auf dem Heimweg heulend in der U- Bahn. Weil mir eingefallen ist, dass ich vergessen habe, der Omma noch Wasser einzugießen und der Nachtdienst doch auch keine Zeit hat und nicht daran denken kann. Sie müssen ja Medikamente für die 60 Bettenstation richten.

Finito. Es reicht. Wenn das Pflege in Deutschland ist, dann will ich entweder nicht mehr pflegen, oder, was mir ja schon lange im Köpfchen schwirrte, dann will ich weg aus diesem Land.

Ich will jetzt hier keinen Vortrag über den Pflegenotstand halten und über die Gründe, die diesen Job für unseren Nachwuchs so unattraktiv machen, ABER:

Wenn die Affanassis aus der Politik mal Patienten sind, dann sind es VIP Patienten. Hochprivat. Und das, Freunde des Gesundheitsministeriums Deutschland, ist einfach mal nicht die fucking Realität. Es ist die Realität, dass ich massenhaft exxikierte Omas aus Pflegeheimen geholt habe, weil ich Jahre später selbst diejenige war, die als Lehrling im Stationszimmer saß und für 120 Bewohner einfach mal so blind irgendwelche Trinkmengenzettel gefälscht hab..., weil „das müssen wir machen, oder denkst du, wir haben hier n Plan, wer von den Alten heut schon wat gesoffen hat?“.

Meckern bringt nichts, Konsequenzen ziehen schon. Zumindest für mich.

Hallo Schweiz.

Es gibt sie noch, die gute, richtig gute Pflege. Es gibt sie noch, die Zeit für den Patienten. Es gibt sie noch, die Länder und die Kliniken, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht.
Ich bin so froh, dass ich das noch erfahren durfte.
Einer der schönsten Momente in meiner Anfangszeit in der Pflege in der Schweiz:
Ich komme zu meinem Patienten, der gerade fertig gefrühstückt hat und will ihn ins Bad zur Körperpflege begleiten. Während ich ihn aufrichte, sehe ich einen Marmeladenfleck auf der Decke und intuitiv denke ich, „Decke umdrehen, für mehr ist keine Zeit“. Und dann wird mir bewusst: Doch, ich habe jetzt hier die Zeit. Ich kann einfach das Bett neu beziehen, während der Herr auf dem WC ist. Denn ich habe nur noch vier andere Patienten zu versorgen. Vier!
Natürlich hat sich auch in der Schweiz in den letzten acht Jahren ein bisschen was im Gesundheitssystem geändert, und wir stapfen mit großen Schritten in die deutsche Richtung, was Pflege betrifft, aber noch sind wir kilometerweit davon entfernt!
Und da ich immer so gerne das System und „die oben“ kritisiert habe und der Überzeugung war, wenn ich hier was zu sagen hätte, dann wäre alles perfekt, dauerte es nur ein Jahr, und ich übernahm die Funktion einer Stationsleitung in der Schulthess Klinik.

Das habe ich sieben Jahre mit voller Leidenschaft und extrem grossen Engagement gemacht. Dann habe ich gekündigt um zu reisen.

Jetzt arbeite ich wieder als „normale“ Pflegefachfrau am Bett. Und ich liebe es. Es hat mir gefehlt. Aber dazu nächstes Mal mehr.